Dr. Oliver Geister hat mit seinem Buch „Kleine Pädagogik des Märchens“ bereits ein wichtiges Grundlagenwerk für Märcheninteressierte vorgelegt. Seine neue Studie „Märchen in dunklen Zeiten“ schließt nun eine wichtige Lücke der Märchenforschung: Welche Rolle hat die Gattung Märchen eigentlich während der Zeit des Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Folge gespielt? Die Frage ist aus zwei Gründen wichtig: 1. Märchen sind symbolische Geschichten, die nicht abschließend gedeutet werden können. Sie haben somit einen Deutungsüberschuss, was einerseits anregend sein kann, andererseits aber auch die Gefahr der manipulativen Deutung mit sich bringt. 2. Die Zeit des Nationalsozialismus war, vor allem geprägt durch Johanna Haarer eine Renaissance der sogenannten schwarzen Pädagogik (Haarers Buch: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, Empfehlung hierzu ist die kritische Auseinandersetzung von Sigrid Chamberlain).
Geister zeigt nun in seinem Buch unter anderem auf, wie das Märchen im Geiste des Nationalsozialismus missbraucht wurde. Er beleuchtet die Verwendung der Figur des Juden in Grimms Märchen, die zumindest in Teilen antisemitische Ressentiments zu stützen wusste. Darüber hinaus zeigt er an unterschiedlichen Beispielen auf, wie die Märchen undifferenziert, verkürzt und manipulativ im Sinne der nationalsozialistischen Denkart genutzt wurden, um Deutschtümelei zu betreiben.
Als Wesen heutigen märchenpädagogischen Handelns kann der offene Umgang mit den Märchen und ihren bei den Kindern ausgelösten Resonanzen gesehen werden. Die nationalsozialistische Märchenpädagogik sah wenig überraschend ganz anders aus: Hier wurden Kinder nicht zum freien und kritischen Denken bewegt, sondern mit vorgezeichneten, ideologisch verblendeten Gedanken konfrontiert. Geister befasst sich zudem mit Hitlers Schneewittchen-Faszination.
So wundert es nicht, dass die Alliierten auf die Idee kamen, Grimms Märchen nach dem Zweiten Weltkrieg zu verbieten, was glücklicherweise nicht umgesetzt wurde.
Aber auch die andere Seite wird beleuchtet: Welche Rolle haben Märchen im Widerstand gespielt, und welche im KZ? Von Anne Frank sind im Zusammenhang ihres Tagebuchs auch selbst geschriebene Märchen überliefert, die vom Autor eingeordnet werden.
Am Ende wird noch ein Lichtblick beleuchtet: „Der kleine Prinz“, das weltberühmte Kunstmärchen von Antoine de Saint-Exupéry, der als Offizier der französischen Luftwaffe im zweiten Weltkrieg eingesetzt war.
Das Buch ist rundum gelungen und wirft einen differenzierten und mit vielen Quellen belegten Blick auf „Märchen in dunklen Zeiten“. Somit ist es nicht nur für Märcheninteressierte zu empfehlen!