Der Mensch ist ein Geschichtendenker

Zwar gilt der Mensch biologisch als Säugetier, er ist aber das einzige Wesen, das differenzierte Kultur(en) entwickelt hat. Viele kulturelle Errungenschaften kennzeichnen uns im einzelnen als Menschen. Eine hervorhebenswerte Besonderheit ist sicherlich, dass wir Menschen Geschichtenerzähler sind. Doch nicht nur das: Es gibt mindestens drei wesentlichen Verbindungen zwischen Geschichten und unserer Art zu denken.

Erstens aus-denken: Wir können uns Geschichten ausdenken. Das bedeutet, dass wir fiktive Zusammenhänge ersinnen können. Von der kleinen Lüge über die Gute-Nacht-Geschichte bis hin zum komplexen Roman. Das Ausdenken von Geschichten ist hierbei nicht nur als hohe Kunst zu sehen. Das Erfinden von Geschichten kann auch die Verarbeitung belastender Situationen unterstützen. Die Schriftkultur ist als weitere menscheneigene Errungenschaft zu sehen und für das Festhalten der Geschichten bedeutsam. Da Geschichten für uns Menschen oft mehr sind als reine Unterhaltung, gibt es auch pädagogische Zugänge zum Schreiben.

Zweitens nach-denken: Wir denken in Form von Geschichten. Dies tun wir nicht ausschließlich, aber sehr häufig. Ob es die Erinnerung an Vergangenes ist oder die Planung von etwas Zukünftigem, unser Gehirn setzt diese Gedanken als geschichtenartige Abfolge von Ereignissen zusammen. Geschichte meint zudem auch Geschichtsschreibung. Unser Wissen über die Vergangenheit wird in Form von Geschichten festgehalten, quasi als gesellschaftliche Erinnerungen. Das Denken in Form von Geschichten ereignet sich nicht nur bewusst und im Wachzustand. Auch Träume erscheinen als Ereignisfolge. Dies gilt für bewusste oder halbbewusste Tagträumereien ebenso wie für die unbewussten Träume, die wir im Schlaf erleben. In diesem Sinne könnten Märchen als Träume der Menschheit verstanden werden. Außerdem beschäftigen uns Geschichten, das heißt: Geschichten regen uns zum Nachdenken an. Das mag daran liegen, dass sie mehr oder weniger symbolhaft unser eigenes Leben widerspiegeln und dass sie Fragen aufwerfen. Ein Konzept, bei dem das Nachdenken über Geschichten eine besondere Rolle spielt, ist das Philosophieren mit Kindern.

Drittens über-denken: Wir denken über die Welt nach und erklären sie in Form von Geschichten. Wenn wir an einem verschneiten Wintertag sagen, dass Frau Holle ihre Betten schüttelt, dann ist uns durchaus bewusst, dass es sich hierbei um ein märchenhaftes Bild und nicht um eine wissenschaftliche Wahrheit handelt. Erklärungen dieser Art jedoch sind symbolhafte Sinnbilder. Es scheint sogar so, dass unser Gedächtnis auf diese Sinnbilder besonders positiv reagiert und sie zum Teil besser erinnert als wissenschaftliche Wahrheiten. Dabei stehen geschichtenhafte Sinnbilder heute nicht in Konkurrenz zur Wissenschaft, sie sind vielmehr unterstützend zu sehen. Und während die Wissenschaft überprüfbare Fakten darzustellen versucht, vermitteln erklärende Geschichten auch eine Sinnhaftigkeit. Sie beschreiben bildhaft, wozu etwas gut ist. Geschichten, die die Welt und ihre Phänomene erklären, werden auch Sagen, Mythen oder ätiologische Erzählungen genannt.