Verwandlung eines Traumas

Traumatische Erlebnisse sind vor allem eins: belastend. Sie wirken sich über viele Jahre aus, sorgen für Verstimmungen, Trauer und Ängste, aber auch für vermeidendes Verhalten.

Im August 1992, mein Bruder Martin war gerade 15 Jahre alt geworden, ich war 17, wurden wir Opfer eines tätlichen Angriffs. Wir waren gemeinsam mit einem Freund unterwegs und wurden anlasslos von einem gewaltbereiten Jugendlichen attackiert. Der angetrunkene Neonazi ging mit einem Ausmaß an Gewalt vor, das uns überforderte, sodass unsere Gegenwehr nahezu wirkungslos war. Erst als mehrere Passanten hinzukamen, ließ der Täter von uns ab. Die Folgen waren für meinen Bruder und mich sehr unterschiedlich. Während bei mir die körperlichen Wunden größer waren (ich musste mit Schädel-Hirn-Trauma zwei Wochen im Krankenhaus liegen), waren für Martin die seelischen Folgen heftiger, da er Opfer und Zeuge extremer Gewalt wurde, die in ihrem Ausmaß sogar lebensgefährlich war.

1993 kam es zu einer Gerichtsverhandlung, in der der Täter bestraft wurde. Knapp 30 Jahre lang hat uns der Vorfall danach kaum noch beschäftigt, bis er sich wieder bemerkbar machte. Martin und ich haben uns zu einer Aufarbeitung entschlossen. So haben wir vorhandene Unterlagen gesichtet, weitere Unterlagen beschafft und uns viel darüber ausgetauscht. Letztlich sind in die Aufarbeitungen sogar in Ergebnisse gemündet:

Martin hat einen Song komponiert und eingespielt. Welcome Home ist im Januar 2024 erschienen und bei den gängigen Streaming-Diensten zu finden. In seinem neuen Podcast It’s All About The Song spricht Martin mit dem Musiker und Songwriter George Major über die Verarbeitung von Erfahrungen in Form von Songs. Auch das oben genannte Ereignis kommt zur Sprache.

Für meine Aufarbeitung bin ich einen eher analytischen Weg gegangen. Da ich aufgrund der Amnesie keine eigene Erinnerung an den Vorfall habe, bin ich quasi als Journalist in eigener Sache vorgegangen und habe ein autobiografisches Essay darüber geschrieben, das als Buch mit dem Titel Ohne Bewusstsein im Handel erhältlich ist.

Christian Peitz: Ohne Bewusstsein. Die Geschichte einer Körperverletzung.

Unterm Strich lässt sich sagen, dass individuelle Aufarbeitungen, ob nun künstlerisch oder eher sachlich gehalten, sich lohnen und einen wichtigen Beitrag dazu leisten, mit belastenden Ereignissen abschließen zu können, womit nicht gemeint ist, dass sie danach dann keine Rolle mehr spielen. Aber sie haben dann eine Form der Einordnung, die den zukünftigen Umgang damit leichter macht. Ich empfinde es so, dass Martin und ich das belastende Ereignis in unterschiedlicher Weise “verwandelt” haben. Die individuelle Aufarbeitung ersetzt aber die Therapie nicht. Eine therapeutische Begleitung ist immer empfehlenswert.